Montag, 23. Mai 2022

STALKER STADT
  


Seit 1990 wohne ich in der Lottumstraße, aber schon in den 1970er Jahren besuchte ich als kleiner Junge mit meinem Vater seinen Bruder in der Zionskirchstraße in genau dem Block, der hier von der Templiner Straße aufgenommen ist.
Mein Vater war ein leidenschaftlicher Fotograf und ich bin es auch. Das Motiv des Fachwerkhäuschens an der alten Tankstelle aus den 1920er Jahren mit der Reklame auf der abgebröckelten Hauswand haben mein Vater und ich über die Jahre bestimmt 20 oder 30 mal abgelichtet.
Bemerkenswert künstlerisch oder zumindest gebrauchsgrafisch misslungen war die Zeigehand samt -finger "Hier zu haben", das Handgelenk zu dünn, eher wie ein Strohhalm, die Hand als Hand kaum zu erkennen.
In der Templiner Straße, womöglich in dem Haus mit der Brikett-Werbung, hat als junge Frau Angela Merkel eine Wohnung besetzt. Das war in den letzten anderthalb Jahrzehnten der DDR nicht sehr ungewöhnlich. Man zog einfach in eine leer stehende Wohnung ein, meldete sich bei der Polizei und der KWV an und bekam von letzterer recht problemlos einen Mietvertrag. Für die Besetzung ganzer Häuser musste aber die Mauer fallen und das System der DDR wanken.
Mit viel Glück konnten wir unser Haus in der Lottumstraße nicht nur besetzen, sondern auch legalisieren, sanieren und wohnen nun in der gentrifizierten Gegend. Damals von 1990 bis 1995 hatten wir noch schlecht ziehende Kachelöfen in den Wohnungen und die Brickets dafür kauften wir genau in der Kohlenhandlung auf Diethards Foto.
Gerecht ist es nicht, dass sich für uns die Forderung "Die Häuser denen, die drin wohnen!" erfüllt hat. Wir trotzen durch unseren mangelnden Wohlstand der Entwicklung und fühlen uns manchmal als gallisches Dorf, manchmal als letzte Schildkröten oder Mohikaner.Vor dem Fachwerkhaus an der Schwedter Straße steht die erste Großtankstelle Berlins aus den 1920er Jahren. Dabei ist sie noch kleiner als der Schuppen auf dem Foto. Mit Großtankstelle war nicht die Größe des Gebäudes, sondern das Angebot verschiedener Benzinsorten gemeint.
Gern hätte ich das Gelände der alten Kohlehandlung und der Tankstelle angemietet und dort ein Schwimmbecken gebaut und in dem Fachwerkhaus ein Atelier oder sowas. Aber diesen Traum hat ein anderer erfüllt.
Denn seit 2003 bespielt der Künstler Dider Zende das Gelände als Freie Internationale Tankstelle, kurz FIT. Er ist 1966 in Andernach geboren und 1991 nach Berlin gekommen. Das Gelände hier hat er schon vorher entdeckt. Die Anmietung klappte hauptsächlich, weil die Besitzer ziemlich normale Leute sind, die nicht die größtmögliche Wertsteigerung einer Luxus-Immobilie erreichen wollen.
Davor steht ein großes Feuerwehrauto, das beschriftet ist mit "Sweating for peace", also "Schwitzen für Frieden". Darin ist die einzige echte finnische Sauna von Berlin, die sogar fahrbar ist. Auf dem Hof ist zwar kein Swimming Pool, aber ein kleines Becken zum Abkühlen nach dem Saunieren.
Auf seiner Saunafeuerwehr ist noch mehr zu lesen:
CREATIVE ENERGY FORCE und über dem Logo des Goethe Instituts:
FINNLAND. COOL.
FRANKFURT BOOK FAIR.
GUEST OF HONOUR 2014.
2014 war er mit seiner Sauna im Feuerwehrauto Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Deren Ehrengast war Finnland und er wurde engagiert, mit finnischen Slammern durch Deutschland zu verschiedenen Auftritten wie in der Hamburger Schifferskirche zu fahren. Welches Fortbewegungsmittel wäre dafür angemessener gewesen als Berlins einzige finnische und fahrende Sauna? Die Schweigsamkeit und Trinkfestigkeit der Finnen hat ihn sehr beeindruckt.
Ich bin sicher, ohne das Verschwinden der alten Reklame hätte Dider zu großen Respekt vor dem geschichtlichen Zeugnis gehabt, als dass er es für neue Streetart geopfert hätte. Doch so hat er von Alaniz etwas Neues auf die Wand malen lassen.
Die alte Reklame KAISER BRIKETT "Hier zu haben" ist ungefähr 2010 unter einer neuen Wandisolierung verschwunden. Ich hoffe sehr, der Hausbesitzer hat sie nicht abschlagen lassen.
Wo sie war ist heute ein Wandbild von Alaniz, das einen amerikanischen Ureinwohner zeigt. Der argentinische Muralist Alaniz hat von 2011 bis 2016 in Berlin ungefähr 20 Wände gemalt, in der Templiner war sein weißer Wolf dabei. In den 90er Jahren hat er in Argentinien gebombt, so der Fachbegriff für eine bestimmte Spielart der Streetart, nach Berlin ging er nach Tulum, Mexiko. Durch Corona blieb er in Berlin stecken.
Auf seinem Wandbild, das den weißen Wolf ergänzt, ist ein Indianer zu sehen, der sowohl Merkmale eines Ureinwohners aus dem Amazonas hat, wie solche von nordamerikanischen Indigenen. Es geht Alaniz um die Umweltzerstörung, die wir durch unsere Art des Lebens verursachen.
Kann es einen Ort geben, an dem man gleichzeitig seine Leidenschaft für Sauna, Streetart, Literatur, Charles Bukowski, Lesebühnen, Musik und Biergarten ausleben kann? Es gibt ihn heute in der Templiner an der Schwedter Straße. Vor dem Corona-Sommer 2021 suchte ich nach einer Freiluftbühne für unsere Reformbühne, die seit 1995 jeden Sonntag auftritt.
Es klappte mit Dider, wir konnten unsere Geschichten und Lieder von der Bühne der FIT an der frischen Luft vortragen, die Mauersegler flogen über uns und wenn wir uns die Zukunft unserer Lesebühne vorstellen, dann so, dass wir nun jeden Sommer dort performen.
Nach der Reformbühne war ich aber doch die einzige Künstlerin, die saunierte, immerhin konnte ich unsere Stammzuschauerinnen Heidi und Bäumchen dazu bringen, diese tolle Sauna als Friedensschwitzer zu nutzen und wir mischten uns nackt dampfend oder in Bademänteln mit unseren Publikumsresten und normalen Besuchern des Biergartens.